• Maybe tomorrow:

    Nanga Parbat

Hier geht es zur Vorstellung von Carolin Hess
Wir werden sie auf ihrem Weg zu den hohen Gipfel unserer Erde begleiten.

Fotos: Carolin Hess und Jonas Salzmann

N02| 2024

Maybe tomorrow: Nanga Parbat

Endlich steigen wir aus den Jeep aus, beziehungsweise eher von der hinteren Ladefläche ab. Nach 13 Stunden Busfahrt am Tag zuvor und nun einer knapp 2 stündigen Jeepfahrt sind wir am Ausgangspunkt unserer Reise, in Halaja oberhalb von Chilas, angekommen. In der Mittagshitze machen wir unsere ersten Schritte auf einem staubigen Pfad. Dieser führt uns langsam aber stetig bergauf ins Diamirtal. Begleitet werden wir neben einigen Eseln von 45 Portern, die nicht nur unsere Ausrüstung und Zelte schleppen, sondern auch Reis, Eier, Dal, Nutella und sonstige Verpflegung für den nächsten Monat, sowie abschnittsweise auch immer wieder von vielen Kindern, die sich sichtlich über unsere völlig geschmolzenen Schokoriegel freuen. Am späten Nachmittag kommen wir in Ser auf 2750m an. Am nächsten Morgen hängen schwere Regenwolken am Himmel. Wir passieren das letzte Dorf und einen Birkenwald und stehen dann am Beginn der langen Gletschermoräne. Linker Hand führt unser Weg auf einer grasigen Landzunge weiter aufwärts. Der Nieselregen verwandelt sich langsam in Graupel und schließlich in leichten Schneefall. Alles ist nun sehr leise. Irgendwann taucht am Horizont ein erstes kleines gelbes Zelt auf. Sonst bleibt unsere Umgebung im Zuhause der nächsten Wochen jedoch an diesem Tag noch in grauer und weißer Verschleierung verborgen. Dafür staune ich am nächsten Morgen dann aber umso mehr, als ich den Reißverschluss der Zelttür öffne und sofort geblendet bin von der Morgensonne, die hinter der direkt vor mir liegenden, knapp 4000m hohen, steilen Diamirflanke des Nanga Parbat aufgeht. Mit 4200m Höhe und der Lage auf einer Blumenwiese ist das Nanga Parbat Basislager sicher das niedrigste und eines der gemütlichsten unter allen 8000er Basecamps. Geweckt werden wir morgens von Vogelgezwitscher und Murmeltierrufen. Küche und Esszelt teilen wir uns mit Anna aus Polen und Tom und Mathéo aus Frankreich, sowie deren Fotografen Jan und Noa. Die Profiathleten sind mit Ski unterwegs bzw. planen direkt vom Basislager auf den Gipfel zu rennen. 3 Tage später machen wir uns zu einer ersten Annäherung auf.

Op-Umkleide, Kybfelsen oder New York…

Der Rucksack ist mittelschwer, der Weg dafür leicht. Nach kurzem auf und ab über die Gletschermoräne geht es in moderater Steigung ein Schneefeld hinauf, bis wir 700m höher das erste Hochlager erreichen. Sicher abgeschirmt vor der lawinengefährlichen Rinne, die weiter bergauf zum 2. Lager führt, stehen unsere 3 Zelte direkt am Fuß eines schützenden Felsvorsprungs. Als die Sonne untergeht liegen wir schon im Schlafsack und noch dazu ist es warm und sogar fast ein wenig gemütlich auf einigermaßen ebener Liegefläche. Es herrscht absolute Stille. Ich schließe meine Augen und stellen mir vor, dass ich gerade in diesem Moment überall auf der Welt sein könnte. Ich könnte gerade die Op-Umkleide verlassen oder mit meinem Fahrrad zum Kybfelsen fahren. Ich könnte mir in der Domhütte die Zähne putzen oder bei meiner Oma am Küchentisch ein Käsebrot essen. Oder, stelle ich mir vor, ich könnte gerade in New York in ein Taxi einsteigen, mir mit einem Handtuch eine schattige Liege an einem völlig überfüllten Strand reservieren oder mich zu einem Kurs im Fliegenfischen anmelden. Ich könnte in den Pyrenäen versuchen Glühwürmchen zu fotografieren, meine Yogamatte auf sizilianischem Boden ausrollen oder mir im größten Kino in Mumbai einen Bollywood Film anschauen. Ja ich könnte sogar auf Kuba versuchen japanisch zu lernen, irgendwo in der Nähe des nördlichen Polarkreises ich sehe was, was du nicht siehst spielen oder schlicht und einfach gerade in diesem Moment eine Wette gegen meinen Bruder verlieren, da ich es tatsächlich nicht schaffe länger als 40 Sekunden die Luft anzuhalten. Aber nein, genau jetzt in diesem Moment liege ich am Fuß der Diamirflanke des Nanga Parbat in einem kleinen gelben Zelt und das ist wirklich ziemlich unglaublich. Der Rückweg am nächsten Morgen ins Basislager dauert kaum eine Stunde und dort freuen wir uns als erstes über eine Eimerdusche, sowie richtigen Kaffee und Nutellachapati. Noch wissen wir nicht, dass unsere Geduld in den nächsten Tagen ganz schön auf die Probe gestellt wird. Wir sitzen im Esszelt und spielen ungefähr die hundertste Partie Rommé. Es regnet. Es nieselt und hagelt und graupelt. Dann Starkregen. Irgendwann leichter, dann zunehmender Schneefall. Und dann wieder von vorne. Gewissenhaft versuchen wir immer möglichst aufzuessen. Da Noa meistens das letzte Chapati schafft küren wir ihn zu unserem Lama. Wir erwägen, ob die Veranstaltung einer Puja hilfreich sein könnte und sprechen kurze Stoßgebete. Wir lachen. Wir zweifeln. Wir schweigen. Wir machen Pläne – tomorrow we go. Wir verwerfen sie. Wir machen neue Pläne – tomorrow we really go. Naja also maybe. Wir hoffen. Wir wünschen. Wir langweilen uns. Wir warten ab und trinken mehr Tee. Und dann spielen wir wieder Rommé und hören auf den Regen. 12 Tage später ist es dann soweit, das Wetter scheint etwas gebessert, sodass wir zu einer 2. Rotation aufbrechen. Wir planen 2 Nächte im 2. Hochlager sowie eine in Lager 3. Der Weg nach Lager 2 ist anstrengend aber zumindest sehr effektiv. Steil geht es in einer Schneerinne pausenlos aufwärts. Um sicher zu stellen, dass man oben auch wirklich ausreichend müde ankommt warten auf 6000m zum Abschluss noch 5 felsige Seillängen durch die ca. 100m hohe Kinshoferwand. Einsetzender Schneefall, kalte Fingerspitzen und zunehmende Kopfschmerzen sind zwar zunächst keine sehr schöne Belohnung, jedoch ist der ausgesetzte Lagerplatz auf dem recht schmalen Grat durchaus sehr beeindruckend. Leider schneit es dann die nächsten Stunden anhaltend weiter, 50cm entgegen aller studierten und verglichenen Wetterberichte. Aufgrund der Schneemengen ist das 3. Hochlager und auch insbesondere die weitere Traverse zum 4. Lager sehr lawinengefährdet. Wir diskutieren am Abend, in der Nacht und weitere 3 Stunden am nächsten Morgen. Wohin geht man auf solch einem schmalen Grat, wenn sich weder Aufstieg noch Abstieg richtig anfühlen? Kein R für richtig, so entscheiden wir uns schließlich dann stattdessen für das R für zu viel Risiko. Schweigend packen wir alle unsere Sachen zusammen und steigen ab, wohl wissend, dass dies der Endpunkt unserer Expedition ist.

Meer aus Vergissmeinnicht

Ich fühle sehr viel Traurigkeit und Enttäuschung aber auch Erleichterung. Neben zu viel Schnee und dem unkalkulierbaren Wetter spüre ich jedoch noch einen 3. Faktor, der wahrscheinlich auch Einfluss auf diese Entscheidung hatte. Nämlich eine etwas nachlassende Faszination und dafür eine zunehmende Befremdung gegenüber der sich verändernden Szene des 8000er Bergsteigens. Was für mich vor 8 Jahren als unendliches Abenteuer begonnen hat, ist im Laufe der Zeit sicher mehr und mehr zu einer Routine geworden und mit dem exponentiell zunehmenden Expeditionshype in den letzten Jahren ist nun sogar eher ein Gefühl entstanden nicht mehr so sehr Teil dieser Massenerschließung sein zu wollen. Am 30. Juni verabschiede ich mich mit Tränen aus dem Basislager und nicht ohne mich auf dem Weg noch mehrmals umzudrehen. Auch heute bleibt der Gipfel des Nanga Parbat in Wolken und Schatten verborgen. Doch wie ein tröstendes Zeichen liegt der Weg vor uns überwiegend in der Sonne. Mit jedem Schritt färben sich die Wiesen bunter und irgendwann leuchtet alles um uns herum in einem hellen, satten Blau. Die Wiesen sind übersät von unzähligen, tausenden Vergissmeinnicht, die sich Welle um Welle zu einem vor uns liegenden Meer, zu einem vor uns liegenden Ozean ausbreiten. In den letzten 8 Jahren habe ich in Zonen, die nicht für dauerhaftes Leben gemacht sind, Quellen von Ausdauer, Stärke und einer andersartigen neuen Lebendigkeit gefunden. Jedoch habe ich auch gelernt, dass genau diese Lebendigkeit sich eigentlich erst im Abstieg voll entfalten kann. Und so folge ich nun der natürlichen Flussströmung erstmal weiter ins Tal. In den darauffolgenden 2 Wochen reisen wir von Gilgit ausgehend durch den Norden Pakistans. Erst ins Hunza Tal und dann Richtung Westen nach Kalash nahe der afghanischen Grenze. Wir sehen, erleben und fühlen, dass Pakistan noch so viel mehr ist als das Land von 5 8000ern, von unendlichen Gletschern und wilden, spitz aufragenden Türmen und unbestiegenen Zinnen. Ein Land in dem 3 Gebirge, Himalaya, Karakorum und Hindukusch, aufeinandertreffen. Ein Land voll versteckter, enger, fruchtbarer Täler und Schluchten sowie karger Hügel und grasiger Hochplateaus. Ein Land vieler Feste, Opfergaben, Tanz, Trommeln, schriller Flöten und Gesang. Ein Land in dem tags und nachts der Muezzin zum Gebet ruft und wo das Leben in jedem Distrikt, nein in jedem Dorf von etwas anderen Religionsgesetzen bestimmt wird. Ein Land von Männern für Männern. Ein Land von Unterdrückung aber auch ein Land von neuen liberalen Strömungen und sogar zarten feministischen Bewegungen. Ein Land mit 1000 Sprachen und trotzdem überraschender Verständigung. Ein Land von schrillen Farben und Verschleierung, von funkelndem Goldschmuck und Maschinengewehren, von Lametta auf Gräbern. Ein Land von Stolz und Gastfreundschaft, in dem man mindestens 3 mal am Tag auf eine Tasse Tee eingeladen wird. Ein Land in dem die süßesten und saftigsten Aprikosen wachsen. Ein Land voll neugieriger Kinder in abgelegenen Dörfern, die dort jedoch auch aufgrund der medizinischen Unterversorgung an Kinderlähmung erkranken oder an einer Blinddarmentzündung sterben. Ein Land in dem die Wege von Maulbeerbäumen gesäumt sind und in dem fast jeder zweite Satz mit einem „inshallah“ beendet wird. Ein Land vom ewigen Eis bis zur Wüste. Von offener und verborgener Schönheit.

Infos:

Das öffentliche Strava Profil von Carolin. Hier gibt es einige Trainingsläufe und Bergtouren (teilweise auch mit kleinen Texten).

Weitere Artikel über Ausrüstung, Gedanken, Vorbereitung und Gipfelbesteigungen von Carolin Hess gibt es bald auf dem ADCO Blog.
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Fotos: Carolin Hess und Jonas Salzmann

Die Geschichte des Expeditionsausstatters begann 1981 im Dachgeschoss eines kleinen Reihenhauses im britischen Sheffield, wo der Gründer und Namensgeber Rab Carrington das erste Produkt herstellte: einen Schlafsack. Doch das war nicht irgendein Schlafsack – denn bereits in dieses handgenähte Produkt ist das Know-how jahrelanger Bergsteigererfahrung von 8.000er Begehungen wie denen von Nuptse und Makalu geflossen.
Heute stellt Rab technisch ausgefeilte Produkte für einen breiten Einsatzbereich draußen her.

Wir haben in der Filiale und im Onlineshop ein tolles Sortiment herausgesucht. -> Hier anschauen